Hongkong – Der letzte Tag vor der Zukunft
von Sebastian Holler
Ich habe überlebt.
Der harte Teil einer monatelangen mitunter gefährlichen Expedition quer durch Asien ist vorbei. Der Airbus A320 setzt in Hongkong auf. Es ist 4 Uhr früh. Im Flughafenbus zum Terminal verschwinden die Lächeln der Menschen hinter blauen Gesichtsmasken. Willkommen in China. Kurz darauf zieht die hell beleuchtete Geschäftigkeit der bunten Container des Hongkonger Hafens an mir vorbei, als ich mit dem roten Taxi mit Erdgas-Treibstoff in Richtung Innenstadt auf hohen Brücken über das Südchinesische Meer schwebe. Hongkong schläft nie. Wir sind da. 220 Dollar. Hongkong Dollar. Ich atme durch. Der Fahrer hält mir einen WeChat QR-Code entgegen. Der erste Dollar der Geschichte wurde in meiner Heimat Österreich geprägt. Die nächste Revolution des Bezahlsystems findet jedoch hier in diesem Moment in Asien statt. So wirke ich wie ein Zeitreisender aus einer längst vergessenen Vergangenheit und reiche dem Fahrer bunte Scheine und abgegriffene Münzen. „Ok, thanks. Get WeChat. Have a pleasant morning.“ Mit britischem Humor im chinesischen Akzent verabschiedet er mich in die endende Nacht.
„Indian Premium Quality“ they said. Mit einer Halbwertszeit von leider nur wenigen Tagen schleife ich nun meinen ramponierten indischen Koffer mit zerbrochenen Räder durch die blank geflieste Hotel-Lobby. Die Blicke des freundlich lächelnden Rezeptionisten-Duos folgen entgeistert dem knirschenden Geräusch, das die höfliche Stille des aufgestylten Boutique-Hotels stört. Ich höre die Stimmen alter noch frischer Bekannte. Noch frisch. „I am Mr. Krendl and I booked two rooms for…“ „Und euch geht’s eh gut?“, unterbreche ich Florians angeregten Plausch mit dem Rezeptionisten-Duo durch einen Schulterklopfer. Nach langer Zeit also nun die Wiedervereinigung mit dem Homebase-Team Florian und Max. Begleitet werden die beiden von Lara, der Gewinnerin unseres China-Gewinnspiels. Am nächsten Morgen verlassen wir gestriegelt und im Anzug das Hotel. Die überrascht lächelnden Blicke des Hotelpersonals begleiten uns hinaus in den letzten Tag des Jahres.
Hongkong ist der perfekte Ort, um nach vorne zu blicken, gleichzeitig aber nie zu vergessen wie alles begann. Durch die zunehmende Überschwemmung Chinas mit britischem Opium aus Indien und dessen Beschlagnahmung durch die chinesische Regierung kam es schließlich zum Ersten Opiumkrieg. Die britische Krone gewann den Konflikt und erzwang in den Ungleichen Verträgen die Übergabe Hongkongs und weiterer chinesischer Gebiete an das Empire. Die Beziehung zu Festlandchina gestaltete sich von nun an kompliziert und verbesserte sich erst mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den 1980ern und der Rückgabe der Kolonie an China 1997. Innerhalb dieser Jahrzehnte wurde Hongkong nun zu der boomenden Weltstadt, die bis heute alle Rekorde bricht. Das beste Nahverkehrsnetz der Welt verbindet diese subtropische Inselwelt, in der sich zwischen grünen Bergen und Hochhäuserschluchten so viele Menschen wie nirgendwo sonst auf so engem Raum begegnen. Hier vermischt sich britischer Charme mit kantonesischer Küche, Oxford-Englisch mit asiatischer Geschäftigkeit.
Hier im subtropischen Perlflussdelta wird der Fortschritt entworfen. Hier liegt das Silicon Valley Asiens. George Lam, Vorstand des Hong Kong Cyberport, zeichnet mit uns im Gespräch ein Bild von einer Zukunft, die das Beste aus zwei Welten vereint zum Wohl aller. Wo könnte eine solche besser entworfen werden als in Hongkong, wo Osten und Westen aufeinandertreffen. Nicht ohne Grund spricht daher auch der berühmte Autor und ehemalige portugiesische Europaminister Bruno Maçães von Hongkong als der eurasischen Metropole schlechthin. Doch dieser weltweit einzigartige Kompromiss der Kulturen hat ein Ablaufdatum. Denn bei der Rückgabe an China wurde eine Beibehaltung des liberalen Systems für die nächsten fünfzig Jahre vereinbart. Die Hälfte dieser Übergangsphase ist fast verstrichen und Peking versucht nun verstärkt Hongkong in die umgebende pulsierende chinesische Metropolregion Greater Bay Area mit seinen dynamischen Zentren Shenzhen und Guangzhou einzubinden. Daher gehen seit den letzten Jahren vor allem junge Menschen immer wieder auf die Straße und protestieren gegen Pekings zunehmenden Einfluss auf die Zukunft Hongkongs und für die ersten freien Wahlen, die den Einwohnern sowohl London als auch Peking stets verwehrt hat. Auch an diesem letzten Tag des Jahres sollten wieder tausende Demonstranten die Atemschutzmasken dem Tränengas der Polizei entgegenhalten.
Nach dem Gespräch über die Zukunft Hongkongs und unsere Initiative verlassen wir die Redaktion der South China Morning Post, dem Hort der asiatischen Pressefreiheit und treten hinaus auf den Times Square. Nein, das war keine Reise durch ein interkontinentales Wurmloch zum weltberühmten New Yorker Platz, sondern zu seinem südasiatischen Pendant. Nur unweit davon sprang Batman in The Dark Knight vom markanten Two International Finance Centre und jagten Optimus Prime und seine Transformers ihre Feinde durch das dystopische Monster Building. Asien ist längst in Hollywood angekommen und Hongkong spielt hier als Vermittler eine nicht unwesentliche Rolle. Filmgrößen wie Jacky Chan und Bruce Lee machten das lange so exotische Asien auf einmal menschlich greifbarer. Es war der erste Moment, wo Menschen aus dem gesamten Westen das Idol ihrer Jugend in Ostasien fanden. Mein Blick schweift von der Statue Bruce Lees, die dessen Bedeutung für eine globalisierte Kultur huldigt, zum angenehmen Trubel auf dem Wasser des Victoria Harbour. Die warme Wintersonne des Südchinesischen Meers errötet mein Gesicht. Die futuristische Kulisse der Skyline, durch die noch der alte Wind des Empires zieht, wirkt wie ein surrealer Traum, in dem Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. Es wird Zeit. Zeit das Jahr zu beenden.
Die Kreditkartenabrechnung sollte für den Neujahrsmorgen feuchtfröhlich mit Wilhelm Buschs Worten verkünden: „Wie lieb und luftig perlt die Blase, der Witwe Clicquot in dem Glase!“ Die Champagnerflöten klirren. Willkommen 2020! Hoch über den Dächern Hongkongs strecke ich zum Rhythmus des Welthits der Bee Gees die Arme gen Himmel und blicke erleichtert hinab zum Victoria Harbour. Ich konnte nicht glauben, dass wir es bisher geschafft hatten und am Leben geblieben sind. Nur wenige hundert Kilometer entfernt schließen Menschen in weißen Schutzanzügen am Jangtsekiang einen Fischmarkt. Die WHO wurde kurz zuvor von den Gesundheitsbehörden über den Ausbruch einer neuen unsichtbaren Gefahr in Kenntnis gesetzt, die unseren Projektverlauf und die ganze Welt für immer verändern sollte. Das Lächeln der gesamten Menschheit wird in den kommenden Monaten hinter blauen Gesichtsmasken verschwinden. Stayin‘ Alive…
Europe Goes Silk Road – Meeting with Dr Lee George Lam at Hotel Conrad HK